Tatmenschen in Stendal

Am Markt steht seit langer Zeit der steinerne Roland. Der alte Supermann beschützt Stendal mit seinem durch die Jahrhunderte krumm gebogenem Schwert. Auf dem Theatervorplatz steht seit Beginn der Spielzeit 2009/10 die Skulptur "Auch Helden haben schlechte Tage" des Berliner Künstlers Marcus Wittmers. Der Supermann ist mit seinem Schädel auf den Boden blutig aufgeschlagen. Ironischer Verweis auf die Möglichkeit des Scheiterns derjenigen, die etwas unternehmen. Das noch fünfunddreißigtausend Menschen zählende Stendal schmückt sich seit 2007 mit dem Zusatz "Hansestadt". Seit 1990 hat sie rund dreißig Prozent ihrer Einwohner verloren. Hier wagt Intendant Dirk Löschner und sein junges Team einen Neustart am Theater der Altmark unter dem Motto: "Tatmenschen".
Mit schmalem Etat wollen die siebzig Beschäftigen, davon vier Schauspielerinnen, sechs Schauspieler und eine Puppenspielerin insgesamt einundzwanzig Produktionen stemmen, darunter fünf Uraufführungen. Niederschwelliege Angebote werden das Programm abrunden, die Theatertüren nahezu täglich für die Besucher offen sein. Mit neuen Formaten wie "Soljanka am Donnerstag" oder einem kostenfreien "Kunstkoffer" am Freitag für Kinder, mit Stückeinführungen, Lesungen und musikalischen Programmen sollen die Stendaler ins Theater gelockt werden, das kulturelle Angebot anzunehmen. Chefdramaturg Sascha Löschner betont dabei den Anspruch seines Hauses, den Anschluss an den gesellschaftlichen Diskurs in den Inszenierungen zu behaupten. Das Theater will in Stendal "Täglich die Ausnahme" sein. Zur Eröffnung der Spielzeit wartet das Theater gleich mit drei Produktionen an einem Abend auf: FAUST der Tragödie erster Teil, COVERGIRL, WIE LYNNDIE ENGLAND DAZU KAM, DAS BÖSE AMERIKA ZU VERKÖRPERN, eine szenische Collage von Barbara Herold als Deutsche Erstaufführung und ELCHTEST von Jaan Tätte.
Intendant Dirk Löschner wuppt Johann Wolfgang von Goethes dramatisches Gedicht als Eröffnungspremiere auf die Bretter. Der FAUST - Stoff ist seit 1925 zum sechsten Mal in Stendal zu erleben. Die Absicht, das Werk aufzuführen, stammt noch von seinem Vorgänger, die Spielpläne der Landesbühnen sind langfristig. Intendant Löschner siedelt das Stück radikal in der Gegenwart an. Er verzichtet weitgehend auf Mystik, interpretiert Faust als Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts im Zeitalter nach der Aufklärung, als die katastrophalen Folgen verantwortungslosen Forschens allgegenwärtig sind. Wenn man Faust jedoch die modernen teuflischen Eigenschaften attestiert und Mefisto auch faustisch sieht, wird der Konflikt zwischen Beiden und die dramatische Spannung weitgehend aufgehoben. Löschner interessiert vor allem die Geschichte des rücksichtslosen Verhaltens Fausts beim Missbrauch der minderjährigen Grete. Sieben Darsteller tragen den auf gut zwei Stunden eingestrichenen Abend.
Es beginnt mit einem Gretchen-Monolog aus dem Stückschluss: Eine Schauspielerin zitiert, ironisch distanziert in konventionellem Kostüm, Frisur und emotional dampfend, eine Bewerbung am Theater. Der junge Forscher Faust (Michel Haebler) mit Laptop und Anrufbeantworter, anfangs in einem weißen Schutzanzug eines Pharmalaboranten, gibt den Skrupellosen, voll Weltschmerz getränkten und todessüchtigen Schwätzer. Mephistopheles (Mathias Kusche) taucht mit schwarzer Pudelmütze zunächst als ein Bettler auf, agiert dann in einem schwarzen Lederlodenmantel wie ein Dealer. Die vielen geflügelten Worte des Stücks und die Identifikationsmöglichkeiten der deutschen Faustgestalt jagen mit atemberaubender Geschwindigkeit vorbei. Zum Osterspaziergang wird das Publikum bei halb erleuchteten Saal zum Mitsprechen aufgefordert, das brav leise bildungsbürgerlich mitmurmelt. Der Pakt wird durch einen Joint besiegelt. Im diesem Rausch verknallt sich der geile Faust in Margarethe (Frederike Duggen), jetzt eine kesse, schnoddrige Göre des Präkariats. Die beiden lernen sich an einer Straßenecke kennen, stoßen fast aufeinander. Gretchen droht ihrem künftigen Liebhaber zunächst als Abwehr mit ihrer Faust. Und die indisch kostümierte Marthe Schwerdlein (Claudia Lüftenegger) leistet gern Beihilfe zum Missbrauchs einer Minderjährigen unter psychedelischen Lichtspielen.
Zwei pantomimische Geister des Teufels und glatzköpfige homunkulusartige Zwillinge bauen das aus zwei Wagen bestehende Bühnenbild (Christopher Melching) in die diversen Szenen des Stücks und Projektionsflächen für die Videosequenzen um, es wird zur szenischen Hauptaktion. In der Kerkerszene schließlich wächst die Inszenierung über sich hinaus. Frederike Duggens Gretchen- Monolog bildet den emotional authentischen Höhepunkt des Abends. Lebhafter, dankbarer Beifall im gut gefüllten Saal.
Danach gab es im Kleinen Haus die Komödie ELCHTEST des Esten Jaan Tätte. Ein Geschäftsmann, der eigentlich unangepasst leben wollte und wieder Willen mit dem Handel von Mobiltelefonen in Tallin reich geworden ist, gönnt sich Urlaub in einer Hütte an einem Eichensee. Am Rande der Zivilisation verzichtet er auf Komfort, Ehefrau und Firmenanteil. Er wird von den Einheimischen zunächst als Heiliger, später als Verrückter angesehen.
Das charmante Bühnenbild von Christof von Büren besteht aus fünf angedeuteten Eichenstämmen, einem rostigen Metallbett, einem Stuhl und einen schiefen Tisch. Der Boden ist mit Rindenmulch bedeckt. Hinter einem halbtransparenten Stoff lassen sich die Spielorte Büro, Wohnung und Kneipe mit Lichtwechsel schnell dazu addieren. Nikolai Radke zeigt uns diesen Antihelden wie einen kindlichen Berserker mit überschäumender Spielwut. Er tobt wie ein Vieh, schüttelt sich wie ein nasser Hund die Widersprüche aus seinem Gedankenfell und findet schöne stille Momente beim Erzählen seiner Geschichte. Hochkomisch, wenn er sich wie selbstverständlich mit dem Mulch wäscht oder mit Gardinenponcho und Eichenlaubkrone den esoterischen Lichtglauben-Guru tanzt. An seiner Seite überzeugt Rike Schubert als gefühlskalte Ehefrau und als geheimnisvoll erotisches Waldmädchen Sirli. Auch die vier Episodenrollen, die Bernd Marquardt gibt, sind genau gespielt, besonders schön der kauzig leise Waldschrat namens Uugu. Am Ende des Stücks verliert dieser Hans im Glück sogar die letzte Hoffung, Sirli findet nicht zu ihm, sondern beglückt einen anderen. Regisseur Matthias Straub interpretiert den Schluss anders: Bei ihm wird der Aussteiger zum Manipulator, statt Telefone verkauft er nun seinen Naturglauben als Sektenvideo. Die kleine Komödie ELCHTEST ist durchaus eine Empfehlung auch für andere Theater.

Das neue Team um Intendanten Dirk Löschner arbeitet voll Enthusiasmus und Leidenschaft. Dem Oberbürgermeister Stendals, Klaus Schmolz, ist sein Theater der Altmark so wichtig, dass er das neue Ensemble persönlich bei der Personalversammlung am ersten Arbeitstag begrüßte. Auch die regionale Presse nimmt ungewöhnlich regen Anteil an den Produktionen der neuen Theatermannschaft. Innerhalb von knapp drei Monaten kam es zu rund 175 Meldungen über die Aktivitäten des Theaters der Altmark
Im November wird Becketts WARTEN AUF GODOT folgen. Die Inszenierung will das Stück aber nicht im Kanon bisheriger Aufführungstradition als absurdes Spiel ansehen, sondern als erstes Theater versuchen, die Interpretation von Pierre Temkine zu nutzen. Der hat in seinem 2008 erschienen sensationellen Buch Wladimir und Estragon als französische Juden auf der Flucht aus dem besetzen Frankreich nach Italien beschrieben. Die Zuschauer dürfen auf diesen realistisch historischen Ansatz gespannt sein.
Provinz ist keine Gegend entfernt der Hauptstadt, sondern ein Zustand im Kopf. So betrachtet hängt es allein von den Theatermachern selbst ab, wie viel Welt in ihren Inszenierungen vorkommt.

Carl Ceiss IN: Theater der Zeit 11/2009


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