Von Mensch zu Unmensch
Auf der Probebühne der seit Jahren
innovativ engagierten Freien Kammerspiele in Magdeburg fand am 1.
Mai 1998 die Uraufführung von Dominik Finkeldes Stück
ABENDGRUSS ODER HIMMEL UND HÖLLE AUF DEM BÜRGERSTEIG statt,
welches schon zum 35. Theatertreffen 1996 im Deutschen Theater in
Berlin szenisch gelesen wurde.
Die Hauptfigur des Stückes, Georg Schepker, ehemals Grenzsoldat
am innerdeutschen "antifaschistischen Schutzwall", hat
nicht nur seinen Beruf, er hat den Sinn seines Lebens verloren
und keine Zukunft. Wo Grenze war, ist jetzt Bürgersteig und für
Schepker die Hölle. In seiner Perspektivlosigkeit wird er wieder
kindisch, mag den ABENDGRUSS des Sandmanns des DDR-Fernsehns, der
ihm vertrauten Sand in die Augen streut und den Arbeits- und
Schlaflosen tröstet. Erfunden hat diese Figur der erst Anfang 20
Jahre alte Westberliner Dominik Finkelde, was zunächst erstaunt.
Er schreibt vom Sterben eines armen Jedermanns aus dem Osten der
Republik mit Himmel und Hölle.
Der christliche Autor erzählt mit sensibler Rigorosität die
Geschichte einer implodierten Familie im gesellschaftlichen
Kontext christdemokratischer Wiedervereinigung, fragt nach den
Folgen unmenschlicher Politik, zeigt "verwischte
Gestalten", getroffen vom Schicksalsschlag der Maueröffnung
1989.
Finkeldes Stück klagt über die Zersetzung der menschlichen
Beziehungen, den Zerfall der Familie und die Deformation des
Menschen unter dem Diktat des Profitstrebens und seine Figuren
stellen sich mental der Geschichte entgegen, reagieren auf die
Gegenwart mit einer Flucht aus der Gesellschaft in die
Verdrängung, da ihre teilweise unbestimmten, neoromatischen
Sehnsüchte sich nicht verwirklichen lassen.
Die Sprache des Dominik Finkeldes erinnert zuweilen in ihrer
Höhe an einen Wolfgang Borchert, wenn Sätze fallen wie
"Uns verändert alles, wir verändern nichts ... Wie denn
weiterleben, wenn die Welt weggenommen ist?".
Hermann Schein stellt sich ganz in den Dienst des Stückes und
den Intensionen seines Autors und inszeniert ohne den Anflug von
Besserwisserei, eine angenehme Tugend, spürt den
Erschütterungen der Figuren nach und breitet eine realistische
Mitleidstragödie aus, läßt die abstrakteren allegorischen
Momente des Textes weitgehend in die Hintergrund treten.
Regisseur Schein läßt Zeit für Pausen, stummes Spiel, seine
Darsteller agieren sehr körperbetont, scheuen nicht derbe
Handgreiflichkeiten beim Familienstreit, er führt seinen
Zuschauern ein leises Spiel von bekemmender Intensität vor.
Beiläufig, ja en Passant der Totschlag des lebensunfähigen
Schepkers an der Telefonzelle durch drei Glatzen am Ende, geholt
vom brauen Tod, ein glücklicher Verzicht auf den didaktischen
Knalleffekt und gerade deswegen: Was kann gegenwärtig aktueller
in einer Stadt wie Magdeburg sein?
Den Traum des sterbenden Schepkers bringt Hermann Schein als
filmische Lösung mit Überblendungen und Falschfarben in die
Szene, was zugleich Überhöhung, schönen Ausblick in die
Perspektive der Figuren gestattet, aber leider das emotional
intensive Spiel unterbricht.
Annette Braun schuf eine Simultanbühne mit orangegelb
geschlitzten Stoffwänden mit Blümchenmuster ohne Fenster und
Aussicht, die schnelle Auf- und Abtritte durch die
"Tapete" ermöglichen und ein umbaufreies Spiel,
raschen Szenenwechsel, ideal für das Inszenierunsgkonzept. Zwei
Familienbilder aus besseren Tagen, Blümchenvase mit
Plastikblumen, ein altes Ostradio sind die sparsamen Zitate für
den Mief bei Schepkers, ein Stehkugelaschenbecher dient als
Bürozitat und als Wachturm, Fluchtort für Schepker und zugleich
Metapher für das ganze Stück steht eine schwarze klapperige
Wendeltreppe, die ins Nichts der Decke führt.
Bekleidet mit einer über die schwarze Hose hängenden
gestreiften Schlaf-anzugsjacke und wirrem schütteren Haar
scheint die Hauptfigur Georg Schepker seinem Darsteller Max
Grashof wie auf den Leib geschrieben, er wird ganz die leidende
Kreatur.
Wie er den Verbohrten, Veränderungsunwilligen spielt, den um
seinen Lebenssinn gebrachten, Halbwahnsinnigen zugleich
Überklaren, den widerlichen Täter, das unbrauchbar gewordene
Werkzeug, den von der Geschichte auf den Müll geworfenen, das
greinende Kind, den störrischen Alten und alles zugleich, dies
spielt Max Grashof mit grandioser Überzeugungskraft, die
Larmoyanz des Textes sorgfältig ausbalancierend.
Schepker ist der Typus des ewig Versündigten, aber auch ein
Georg, welcher von den Drachen getötet wird. Zwei Versuche der
Harmonisierung Schepkers mit seiner Familie bei Kaffee und Kuchen
mißraten, enden in handgreiflichem Streit, ja in der
Tortenschlacht und dann in Einsamkeit aller.
Wenn Grashofs Schepker allein am Boden sitzt mit dem gebrochen
Kuchen und ihn stumm manft, während die nächste Szene bereits
über seinen Kopf fegt oder er auf der Wendeltreppe seinen alten
Orden hervorkramt und ihn an die Schlafanzugsjacke heftet, stellt
sich die Frage, wieviel Würde einem ostdeutschen Grenzsoldaten
zugebilligt wird, wieweit die Würde des Menschen wirklich
unantastbar ist.
Schepker wird verfolgt von der Gegenwart und seiner Frau, die ihm
und seiner zunehmenden Geschäftsunfähigkeit nachspioniert, was
ihn endgültig in den Wahnsinn treibt und die hilflos den Verfall
ihres Mannes zusehen muß.
Seine besorgte Frau spielt Franziska Kleinert, zupft die
geblümten Stores zurecht, als ob die aus allen Fugen geratene
Welt sich wieder ordnen und das hereingebrochene Chaos wieder
beseitigen ließe. Von großer Komik, wenn sie ihren erwachsenen
Sohn mitten in dessen Verhandlungen um das Schicksal seines
Betriebes mit sturer Begrenztheit und mütterlichem Instinkt
einen eventuellen Fleck von der Hose bürstet.
Wenn Tochter Elisabeth, gepielt von Wiebke Inn, nach Flucht in
den gefühlskalten Westen vor dreizehn Jahren, nun zurückkehrt,
auf eine heile Familienwelt hofft, ihren Exfreund trifft und sich
mit ihm in die Gardine der Vergangenheit einspinnt und so
gleichzeitig die Bühne öffnet, ein schönes poetisches Bild,
findet sie nur Trümmer, bis sie wie viele Figuren ihr Unglück
im Alkohol ertränkt und wieder abreist.
Vom geschlossen agierenden Ensemble hier noch Michael Günther
genannt, der Schepkers entschlossenen Sohn Jurek als bulligen
Kämpfer auf aussichtslosen Posten um seine von der Abwicklung
bedrohten Betrieb spielt. Über der Szene leuchtet der
Werbespruch der Telekom VON MENSCH ZU MENSCH, hier als Reklame
für Bier, die sich im Verlaufe des Abends nur immer zynischer
lesen läßt. Das überwiegend junge Publikum in Magdeburg danke
mit starkem Beifall dieser gelungen Uraufführung.
In unsere polarisierten Gesellschaft, nicht nur in
Sachsen-Anhalt, wo die Uhren anders gehen, aber immerhin nicht
stillstehen wie anderenorts, gehört dieser feinfühlige
ABENDGRUSS Finkeldes. Dessen Schepker sagt: "Wir sind nicht
gleich, ehe wir uns
nicht die gleichen Wunden zugefügt haben."
Theaterintendanten, insbesondere in den alten Bundesländern, die
den Spruch von der "inneren Einheit" nicht nur als
Lippenbekenntnis mit sich herumführen, sei das Stück zum
Nachspielen empfohlen.
Carl Ceiss in: "Theater der Zeit"7/8 1998
Alle Rechte beim Autor. Kontakt
Zurück zur Startseite: http://www.ceiss.de